Die närrische Woche des Neoliberalismus
Denken Sie bei „Angebot und Nachfrage“ an Papageien? Nach diesem Artikel schon. Doch was bedeutet Neoliberalismus eigentlich? Was soll daran so problematisch sein? Lesen Sie außerdem, welche Initiativen an einem Rückbau neoliberaler Strukturen und Denkmuster arbeiten.
Von Ulrike Sumfleth
Teil 1: Was ist Neoliberalismus? Vier Perspektiven
Neoliberalismus ist ein Schwurbelwort. In solchen Fällen hilft es oft zu fragen, wie etwas funktioniert, anstatt danach zu fragen, was es ist. Zum Verständnis sind verschiedene Perspektiven wichtig.
1. Neoliberalismus als Wirtschaftskonzept
Als Allheilmittel gegen wirtschaftliche Krisen empfehlen neoliberale Wirtschaftskonzepte mantraartig drei Maßnahmen: 1. Deregulierung, also mehr „Frei“-Handel für Unternehmen. 2. Privatisierung von öffentlichem Eigentum. Und 3. Abbau des Sozialstaates.
Im Zentrum dieses Konzeptes, das weltweit an Unis gelehrt wird, steht ein Menschenbild vom „Homo Oeconomicus“: Der Mensch wird als Roboter dargestellt, der uneingeschränkt „rational“ handeln würde. Und stets egoistisch zu seinem eigenen Vorteil. Der Staat soll sich nicht in die Wirtschaft einmischen, denn „Angebot und Nachfrage“ würden ein perfektes Gleichgewicht „des“ Marktes ergeben.
10 Years After the Crash: Nichts gelernt?
Gleichgewicht des Marktes? Wer 2008 nicht ins Koma fiel und heute erst erwacht, dürfte sich daran erinnern, dass die Weltwirtschaftskrise, ausgelöst von der Lehman-Pleite vor bald 10 Jahren, alles mögliche bedeutete – nur keinen Markt im Gleichgewicht. War nicht die Deregulierung der Märkte, also ihre Entfesselung, die Ursache der Krise?!
Eine komplette Verkehrung der Verhältnisse. Die Medizin, die empfohlen wird, macht krank. Die Deregulierung der Finanzmärkte führte zum Zusammenbruch zahlreicher weiterer Märkte. Doch entgegen jeder „Ratio“ lehren Professoren das neoliberale Patentrezept unbeirrt weiter:
„Angebot und Nachfrage!” – so krächzen es manche mit Papageienstimme, offenbar weil sie es selbst nicht mehr hören können. Realsatire an deutschen Unis, erstes Semester VWL.
Biologische Existenzsicherung
Bei konsequenter Durchführung dieses Konzeptes bricht nicht nur die Wirtschaft zusammen. Auch dem Staat, der sich damit selbst entmächtigt, kommt am Ende nur noch die Funktion eines Verwalters im Kassenhäuschen zu. So weit wird’s nicht kommen? In manchen EU-Ländern ist genau das der Fall: Der Staat ist nur noch für eine Grundversorgung zuständig, die in Polen über „biologische Existenzsicherung“ nicht hinausgeht.
Quelle: Stefanie Hürtgen: „Das Konzept der strukturellen Heterogenität und die Analyse fragmentierter Wachstumsgesellschaften in Europa“, Seite 22: http://www.kolleg-postwachstum.de/sozwgmedia/dokumente/WorkingPaper/wp2_2015.pdf
Als Kosten hat man rund 50 Euro definiert, deren Auszahlung der Staat garantiert. Unterhalb dieses Konsumlevels droht „biologische Vernichtung“. So nennen Narren den Tod.
Eine solche Entwicklung wäre ein maximal brutaler Umbau unserer einst „sozialen Marktwirtschaft“. Aber wer garantiert eigentlich, dass es bei uns nicht so kommt?
Hoffungsvolles Projekt: das Netzwerk Plurale Ökonomik
Doch es gibt Hoffnung. Mittlerweile protestieren Ökonomiestudenten in mehr als 20 Ländern gegen die einseitig neoliberale Lehre an den Unis. Sie fordern eine vielfältige, eine plurale Lehre, ein großes Spektrum an Theorien. Und eben nicht nur die neoliberale, die sie „Mainstream“ nennen oder sogar „Fake Science“. Sie fordern Lehrstühle, und solange diese fehlen, unterrichten sie sich selbst. Die absurde Einseitigkeit ihres Studiums schildern sie so: Es sei, als lernte man im Psychologiestudium nur Siegmund Freud – oder im Politikstudium nur Leninismus. Allmählich nimmt die Diskussion auch in Deutschland Fahrt auf.
Zurück an den Ursprung
Noch wird die Bedeutung dieses Wandels unterschätzt. Doch es steckt ein visionäres Potenzial darin: Die Ausbildung von Ökonomen, die später oft eine hohe Stellung einnehmen, ist ein Schlüssel zu einer veränderten Denkweise in Politik und Wirtschaft. An der Universität von Chicago trat der Neoliberalismus einst seinen Siegeszug um die Welt an. Systematisch wurden die marktradikalen Konzepte in die Köpfe von Studenten in aller Welt „eingepflanzt“. Wenn es einen sinnvollen Weg des Rückbaus gibt, dann diesen. Man kehrt an den Ursprung, die Ausbildung, zurück.
Wer mehr über die unterstützenswerte Initiative erfahren möchte: https://www.plurale-oekonomik.de
Nicht zuletzt hat auch die Forderung nach Privatisierung sich nicht eben als klug erwiesen. Jedes Kind weiß mittlerweile, dass Privatisierung von öffentlichem Eigentum nichts anderes ist als eine gigantische Umverteilung von unten nach oben. Absurder Superreichtum und Verarmung weiter Teile der Bevölkerung sind global zu verzeichnen.
2. Neoliberalismus als politisches Konzept
Auf politischer Ebene gibt es eine real gelebte Praxis, die in Deuschland über Gesetze wie „Hartz IV“ bis in die Wohnstuben der Bevölkerung dringt. Auf den Kern reduziert, besagt neoliberale Arbeitsmarktpolitik, dass es vom Staat nichts ohne Gegenleistung gibt.
Wer die Gegenleistung – aus welchen Gründen auch immer – nicht erbringen kann, verliert seinen Anspruch. Er wird exkludiert. Das Prinzip „Fordern und Fördern“, wie es die rotgrüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder populär machte, drückt dies auf scheinbar harmlose Weise aus. Schlicht ausgeklammert wird damit die Tatsache, dass nicht jeder in der Gesellschaft die Chancen und Fähigkeiten hat, das Geforderte zu erbringen.
Ganz klar: Die Schwächsten werden damit ausgegrenzt. Und das ist schlicht unsozial und nebenbei unchristlich. Die größte Wirkung von „Hartz IV“ besteht jedoch in seiner psychologischen Abschreckungsfunktion für die arbeitende Gesellschaft: Aus Angst, in „Hartz IV“ zu „fallen“ und stigmatisiert zu werden – wozu die Massenmedien massiv beigetragen haben – werden miese Arbeitsbedingungen eher akzeptiert.
Wie sehr auch das politische Neoliberalismus-Konzept versagt hat, zeigt der Niedergang der SPD. Mit der Forderung nach „sozialer Gerechtigkeit“ in den Bundestagswahlkampf zu ziehen, ohne sich von der Agenda 2010 zu distanzieren, war ihr größter Fehler. Man unterschätzt die Wähler.
3. Neoliberalismus als Ideologie
Die Art und Weise, wie die Ziele einer superreichen Wirtschaftselite über die Massenmedien vermittelt werden, hat vielfach ideologische, bisweilen religiöse Züge. Wachstum und Wettbewerb werden via Fernsehen, Zeitungen und Internet regelrecht gepredigt – und als Garant für den angeblichen Wohlstand aller dargestellt.
In Wirklichkeit ist die Wohlstandsnummer ein Trick. Der Wohlstand aller wird ja auf die Zukunft verschoben. Es handelt sich um ein Versprechen, nicht mehr. Zuerst, so lautet die Forderung, müssten die Unternehmen gefördert werden – durch noch mehr Deregulierung, niedrige Steuern, staatlich bezahlte Infrastruktur usw. Und erst dann, wenn es den Unternehmen gut geht, bekämen „alle“ was vom Wohlstand ab.
Dieser Trick funktionierte, solange die Armut in Deutschland weniger sichtbar war. Doch längst sind Pfandflaschensammler zum Symbol der neuen deutschen Armut geworden. Der Zuzug von Flüchtlingen, die ja per se ebenfalls arm sind, verstärkt den Eindruck. Vor allem in Großstädten ist Armut ein Alltagsanblick im Straßenbild. Wenigstens kann niemand sie mehr leugnen. Doch dass die Konzerne ihre Gewinne an die Gesellschaft weitergeben würden, glaubt heute wohl niemand mehr. Die Armut wächst – trotz Wachstumsraten in der Wirtschaft.
Ein Kennzeichen von Ideologien ist auch, dass sie gegen Kritik immun sind. So blendet das neoliberale Dogma vom ewigen Wirtschaftswachstum die ökologischen Folgen des Ressourcenverbrauchs einfach aus. Wir haben uns an die Schizophrenie gewöhnt: In ein und derselben Nachrichtensendung erfahren wir erst die neuesten Wachstumsprognosen – und im nächsten Atemzug vom Insektensterben. Das eine wird tunlichst nicht mit dem anderen in Verbindung gebracht. Dabei warnte bereits 1972 der damals berühmte Bericht „The Limits to Growth“ (Die Grenzen des Wachstums) vor den Konsequenzen eines ungebremsten Wirtschaftswachstums: Es führt zum Kollaps.
Indem der Neoliberalismus den Wettkampfgedanken in alle Bereiche der Gesellschaft überträgt, leistet er zudem Rechtspopulismus, Nationalismus und Rassismus Vorschub. Der Kampf um wohlfahrtstaatliche Leistungen, um Arbeitsplätze und Wohnraum schürt Ängste, die rechten Parteien die Wähler in die Arme treiben.
4. Neoliberalismus als medienvermittelte Norm
Bei der Vermittlung neoliberaler Konzepte haben die Massenmedien – die selbst neoliberal geführte Konzerne sind – die Schlüsselfunktion.
Vor allem durch das Ausblenden von kritischen Hintergründen und Zusammenhängen vermitteln sie unter dem Schutzmäntelchen journalistischer Neutralität ein Zerrbild von unserer Gesellschaft, das mit dem offenbar doch noch gesunden Realitätsempfinden immer weiterer Kreise immer weniger übereinstimmt. Kurz: Normalbürger erkennen ihre zunehmend prekäre Lebensrealität in den Darstellungen der Altmedien nicht mehr wieder.
Dadurch zwingt man sie regelrecht, die Propaganda zu hinterfragen. Und man stößt sie auf die berechtigte Frage, inwiefern diese der Aufrechterhaltung der wirtschaftspolitischen Ziele einer winzigen Elite dient.
Teil 2: Aktuelle Folgen – Verunsicherung, aber auch Hoffnung
Der Vertrauensverlust in Medien, Politik und Wirtschaft führte 2016/2017 zum Erstarken rechter Parteien und Bewegungen. Aber es gibt auch hoffungsvolle Entwicklungen:
Aufklärungsarbeit durch NGOs
Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) klagen die Verhältnisse an und leisten Aufklärungsarbeit, die Journalisten in den Massenmedien nicht leisten können. Zu den bekanntesten zählen z. B. LobbyControl, abgeordnetenwatch, Oxfam, attac, Mehr Demokratie e.V. oder Greenpeace. Mit Kampagnen und wissenschaftlichen Studien verbreiten sie Fachwissen zu oft hochkomplexen Themen – wie Lobbyismus, Vermögenskonzentration, „Frei“-Handelsabkommen, Volksabstimmung oder Umweltverschmutzung durch Glyphosat, Plastikmüll, Nanopartikel etc.
Bündnisfähigkeit nimmt zu
Auch die Bündnisfähigkeit nimmt zu, wie man zuletzt bei den Themen „Umverteilung“, „Gegen TTIP“ oder „Für Volksentscheide“ deutlich sehen konnte. 30 Organisationen in einem Bündnis sind keine Seltenheit mehr. Daneben existieren unzählige kleine NGOs und Initiativen mit eigenen inhaltlichen Ansätzen.
Um NGOs nicht pauschal als Aufklärer zu verherrlichen, sei darauf hingewiesen, dass es auch strategisch installierte NGOs gibt, die gegründet werden, damit sich im Kern – gar nichts verändert. Sie bündeln Energie und lenken sie auf wenig brisante Nebenbaugleise um. Wie bei jeder Institution und bei jedem Medien ist es unablässig, auch bei NGOs die Finanzierungsquellen zu recherchieren und sich ein Bild über die Glaubwürdigkeit zu machen.
Alternative Medien
Neben den Nachdenkseiten tragen weitere unabhängige Redaktionen zur Aufklärung bei. In den sozialen Netzwerken weisen sie auf Missstände hin und verbreiten ihre Informationen. Sie unterfüttern die Kritik und tragen zum Erstarken einer Gegenöffentlichkeit bei. Ihr Niveau ist oft hoch.
Beispiele für alternative Medien sind:
- Free 21, ein Magazin für unabhängigen Journalismus http://www.free21.org
- Das Nachrichtenmagazin Hintergrund https://www.hintergrund.de
- Die Neue Rheinische Zeitung http://www.nrhz.de
- Das Internetportal KenFM von Ken Jebsen https://kenfm.de
- Lunapark 21, eine Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie http://www.lunapark21.net
- Der unabhängige Blog Le Bohemien https://le-bohemien.net
- Der „kritische Bürgerjournalismus“ von Claus Stille https://clausstille.com
- Das „Kritische Netzwerk“ von Helmut Schnug http://www.kritisches-netzwerk.de
Die Massenmedien brandmarken die Konkurrenz in den sozialen Netzwerken, indem sie behaupten, sie wären unseriös, voller Fake News und eine einzige Filter-Bubble-Falle. Doch das ist eben eine Perspektivfrage: Je nachdem, welche Quellen man sich in den Netzwerken zusammenstellt, können sie von größtem Stuss bis zu Avantgarde-Journalismus reichen.
Kommunikationswissenschaft wurde Breitensport der Enttäuschten
Daneben lässt sich ein regelrechter Run auf Nachhilfe in Kommunikationswissenschaft verzeichnen. Veranstaltungen zum Thema „Lügenpresse“ füllten Hörsäle bei öffentlichen Ringvorlesungen. Zahlreiche Fachbücher und Artikel beleuchten den Vertrauensverlust in „die“ Medien. (Auch meine Broschüre: „Simulierte Diskurse – Verlagskonzerne und ihr Märchen von der Pressefreiheit“, https://sintfluth.de/sintfluth-blog)
Wie lässt sich das wachsende Interesse an Medienkritik einordnen? Offenbar wacht unsere Gesellschaft gerade erst auf. Immer mehr Menschen begreifen, dass der Neoliberalismus nicht das Allheilmittel ist, wie es seit Jahrzehnten gepredigt wird, sondern der Auslöser von Krisen selbst. Und sie begreifen, welche Tragweite ein besseres Verständnis von Kommunikation und Massenmedien hat, um die Tricks der Täuscher in Politik und Wirtschaft zu durchschauen. Da man ja enttäuscht von den Altmedien ist, hat man sich also zuvor auch getäuscht! Das erzeugt Frust. Aber eben auch Lust, Manipulation zu entlarven und beim Namen zu nennen.
Aufklärung über Manipulationstechniken: Rainer Mausfelds Leistungen
Die NachDenkSeiten leisten seit langem Aufklärungsarbeit zu Methoden, mit denen Politik und Unternehmen die öffentliche Meinung manipulieren.
Einen Popularitätsschub erfuhr das Thema durch den Kieler Psychologen Rainer Mausfeld. Mit seinem Vortrag „Warum schweigen die Lämmer?“ gelang dem Kognitionsforscher ein Wissenschaftshit auf YouTube. Auch seine weiteren Vorträge haben Hunderttausende Klicks.
Mausfelds akribisch recherchierten Vorträgen ist es zu verdanken, dass kaum bekannte Techniken der Meinungsmanipulation einem größeren Publikum bekannt wurden. Die hochspannenden Erkenntnisse enttarnen Elitenmacht und Herrschaftsstrukturen. Bei vielen Menschen kamen sie wie eine überfällige Erleuchtung an. Mausfeld wird verehrt, Veranstaltungen mit ihm sind ausgebucht.
Eine dieser Techniken ist journalistische „Fragmentierung“ . Mausfelds Forschung beweist, welch gravierend verdummende und Apathie erzeugende Wirkung es hat, wenn Journalisten es unterlassen, in ihren Berichten Sinnzusammenhänge zwischen Ereignissen herzustellen. Indem sie Vorkommnisse als Einzelereignisse darstellen, nehmen sie dem Leser oder Zuschauer jede Chance zu erkennen, dass ein übergeordneter, z. B. ein historischer Zusammenhang bestehen könnte. In einem anderen Vortrag klärt Mausfeld über „Soft-Power-Techniken zum Demokratie-Management“ auf: Damit Veränderungsenergie keine heiklen Machtfragen im Kern berührt, wird sie kanalisiert und umgelenkt auf weniger brisante Nebenbaugleise. Dies geschieht z. B. durch gezielt geschürte Skandale und mithilfe strategisch installierter NGOs.
Kritik an Massenmedien war erst der Anfang
Dass Medienkritik und Aufklärung über Manipulationstechniken im Trend sind, haben die Massenmedien selbst ausgelöst. Durch immer märchenhaftere „Wirklichkeitsbeschreibungen“ verprellten sie Kunden, die ihre eigene Lebensrealität darin nicht mehr wiedergespiegelt finden. Folglich wurden auch die Massenmedien das erste Opfer der Empörungswelle, der erste Gegenstand der Untersuchung auf breiter Linie. Doch bei Kritik an den Massenmedien wird es nicht bleiben. Wer einmal empört ist, hinterfragt nicht nur, welchen Methoden er aufgesessen ist. Er landet zwangsläufig auch bei den politischen Motiven dahinter.
Prognose: Aus dieser selbst gestellten Falle kommen die Massenmedien nicht mehr heraus. Entgegen aller Beschwörungen war es noch nie ihre Aufgabe, kritisch die „Realität“ zu beschreiben, sondern Herrschaftsstrukturen abzusichern und herauszufiltern, was dem im Wege steht.
Die Bedeutung von Medienkritik für alle anderen Funktionsysteme der Gesellschaft wird jedoch gerade erst entdeckt. Nach ihrer erwachten Lust auf Kritik an den Massenmedien wird sich die genarrte Gesellschaft als nächstes die historisch gewachsenen Selbstbeschreibungen der anderen Systeme vornehmen: der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft und des Rechtssystems. Am Beispiel der internationalen Proteste gegen die einseitige Volkswirtschaftslehre sieht man: Sie ist schon auf dem Weg.
Kritik am Parteiensystem wächst
Auf politischer Ebene kämpfen z. B. zahlreiche Initiativen dafür, dem erstarrten Parteiensystem einen heilsamen Impuls von außen zu verordnen: durch bundesweite Volksabstimmungen.
Sie gelten als überfälliges Korrektiv der repräsentativen Demokratie – mit guten Chancen, in den nächsten Jahren verwirklicht zu werden.
Die Zeit dafür ist reif: Die Parteien können viele Themen gar nicht mehr anpacken, weil sie heillos in Abhängigkeiten verstrickt sind. Auch hier erkennen immer mehr Bürgerinnen und Bürger, welch uralte Paradoxie der parlamentarischen Demokratie zugrunde liegt: Indem das Volk Volksvertreter wählt, degradiert es sich selbst zum Untertan. Wenn dann die gewählten Berufspolitiker allzu offensichtlich nicht den Willen der Mehrheit erfüllen sondern eine Elite beglücken, ist die Forderung nach mehr Mitbestimmung programmiert.
Bundesweite Volksabstimmungen könnten das politische System spürbar verändern, und da Deutschland ein Vorzeigeländle ist, hätte das Strahlkraft für Europa. Dass in Volksabstimmungen auch Risiken liegen, weil die großen Denkfabriken versuchen werden, Abstimmungsthemen zu Gunsten neoliberaler Konzepte zu steuern, leugnet niemand. Die Hoffnung der Befürworter liegt auf der Prozesshaftigkeit einer solchen Gesellschaftsveränderung: Indem Bürgerinnen und Bürger sich intensiver mit Politik beschäftigen, wächst auch ihr politisches Bewusstsein. Sie wollen raus der Publikumsrolle und mehr direkte Demokratie.
Juristen als Whistleblower?
Und welche Rolle spielt eigentlich das Rechtssystem im Neoliberalismus? Juristen haben die neoliberale Entwicklung als „legal“ abgesichert, wie man gerade bei den „Paradise Papers“ über „Steuervermeidung“ wieder einmal sehen kann. Anwälte sind die am wenigsten kritisierten Akteure bei der Aufarbeitung der Weltwirtschaftskrise ab 2008. Man lebt von Verschwiegenheit, bislang gibt es keine Whistleblower, die die Funktion von Juristen als Diener der Wirtschaftselite outen. Das dürfte jedoch nur eine Frage der Zeit sein. Auch dieser Berufsstand wurde prekarisiert, und die Jobchancen wurden weitestmöglich in Abhängigkeit von Konzernen gebracht.
Parallele zwischen Massenmedien und Parteien
Zwischen den Massenmedien und den Parteien gibt es eine auffällige Parallele: CDU, SPD, Grüne und FDP unterscheiden sich immer weniger. Und ebenso wenig unterscheiden sich noch die Inhalte der marktbeherrschenden Medien. Sowohl die vorherrschende neoliberale Politik als auch der regierungsnahe, vorherrschende Journalismus behaupten beide, eine „politische Mitte“ zu vertreten, die als irgendwie gesund, gemäßigt und „Common Sense“ dargestellt wird. Was kritisch rechts oder links davon steht, wird als „radikal“ bezeichnet.
Doch genau damit narren uns die Papageien des Neoliberalismus schon wieder. Dass ihre „Mitte“ selbst „radikal“ ist, indem sie eine gigantische Umverteilung zugunsten von Eliten fördert, wird von ihnen verschwiegen oder gar nicht erst erkannt. Einer von vielen Gründen ist schlicht unsere Sprache: Nicht einmal Hardliner bezeichnen sich selbst als neoliberal. So haben Neoliberale gegen Selbsterkenntnis perfekt vorgesorgt. Sie fühlen sich von diesem Wort schlicht nicht angesprochen.
Die ewige Frage: Was kann man tun?
Die Gegenmittel zur närrischen Verblendung sind im Prinzip ganz einfach und für jeden nachvollziehbar. Lesen Sie unabhängige Presse wie die NachDenkSeiten, empfehlen Sie kritische Medien weiter.
Bilden Sie sich fort, klären sie sich und andere über den Neoliberalismus auf. Engagieren Sie sich in kleinen oder großen Projekten. Erheben Sie Ihre Stimme gegen die Papageien. Lassen Sie sich nicht zum Narren halten!
Fotos:
„Obdachlosen-Hotel“: stereotyp-0815, via Visualhunt.
Rest: privat.